Förderprogramm zivik: Interview mit Christina Foerch-Saab und Ziad Saab
Die Journalistin und der Ex-Kombattant
Die deutsche Medienschaffende Christina Förch und der ehemalige Kämpfer Ziad Saab, Libanese, gründeten zusammen mit anderen ehemals verfeindeten Kombattanten des libanesischen Bürgerkriegs die Organisation Fighters for Peace (Kämpfer für den Frieden). Seit Jahren setzen sie sich im Libanon für Frieden, Versöhnung und eine Aufarbeitung des Bürgerkriegs ein.
Autorinnen des Beitrags sind die Journalistin Christina Foerch-Saab und Sandra Cichos.
Wie schätzen Sie die Voraussetzungen für Reformen im Land ein?
Ziad Saab: Der Libanon hat ein konfessionelles System. Wegen dieser Art von Regime sind im Libanon während des Bürgerkriegs 150.000 Menschen gestorben. Der Krieg wurde 1990 mit dem Ta'if-Abkommen beendet, aber dieses Abkommen wurde nie vollständig umgesetzt. Das Ta'if-Abkommen hatte bestimmte Schritte festgelegt, die unternommen werden müssen, um eine echte Transformation zum Aufbau eines modernen Nationalstaates zu erreichen. Während der Übergangszeit wurden die damaligen Kriegsherren in den politischen Entscheidungsprozess einbezogen und wurden wichtige politische Entscheidungsträger. Diese Beteiligung sollte vorübergehend sein, aber besteht bis heute. Eine der wichtigsten Forderungen der Demonstranten während des Aufstands von 2019 war die vollständige Umsetzung des Ta'if-Abkommens, welche das konfessionelle System beenden und einen modernen Nationalstaat schaffen sollte.
Wer sind hierbei wichtige Akteure ?
Ziad Saab: Zuallererst die Zivilgesellschaft, insbesondere die Aktivisten des Aufstands von 2019, weil sie für Reformen kämpfen. Andere Akteure wären fortschrittliche religiöse Persönlichkeiten, unabhängige Gewerkschafter und junge, fortschrittliche Politiker. Aber den Libanon kann man nie losgelöst von den internationalen Mächten sehen, die um die Vorherrschaft in Nahost kämpfen…
Christina Foerch:… und deshalb wäre es wichtig, bestehende Milizen und ihre Waffen in die reguläre libanesische Armee und in eine nationale Verteidigungsstrategie zu integrieren…
Ziad Saab:… was nicht Teil des Ta'if-Abkommens ist.
Welche Unterstützung bräuchten diese Akteure?
Christina Foerch: Die Protestbewegung hat einen sehr großen Teil der libanesischen Bevölkerung mobilisiert. Was fehlt, ist eine umfassende und vereinende Narrative der Bewegung und eine konkrete Vision für einen zukünftigen Libanon. Vielleicht könnte eine Bestandsaufnahme der Protestbewegung mit ihren verschiedenen Akteuren und unterschiedlichen Vorstellungen eines zukünftigen Libanon ein erster Schritt sein. Sobald die Vertreter der diversen Akteure mit ihren verschiedenen Zukunftsvisionen erfasst sind, könnten sie in Form von Bürgerräten zusammengeführt werden, welche die Grundlage für eine echte Opposition für die nächsten Wahlen bilden.
Ziad Saab: Wir dürfen nicht unterschätzen, welch wichtige Rolle die Zivilgesellschaft in den letzten Jahrzehnten gespielt hat. Die Zivilgesellschaft hat den Boden dafür bereitet, auf dem 2019 die Massenproteste entstanden sind - auf friedliche Art und Weise. Die Zivilgesellschaft hat die Menschen darin bestärkt, ihre Rechte wahrzunehmen und Forderungen zu stellen, beispielsweise nach einem Prozess der transitionellen Justiz, um das Erbe des Bürgerkriegs endlich richtig aufzuarbeiten. Auch Forderungen nach einem modernen, demokratischen Staat mit transparenten und funktionierenden Institutionen und mit Repräsentanten, die zur Rechenschaft gezogen werden können. Diese Bemühungen der Zivilgesellschaft müssen langfristig unterstützt werden. Reformen und Systemänderungen sind lange Prozesse und daher benötigen wir eine langfristige Unterstützung.
Was sind realistische Szenarien, welche Hoffnungen, Risiken und Zweifel gibt es?
Ziad Saab: In dieser komplexen und schwierigen Situation kann derzeit niemand die Zukunft vorhersehen. Weitere Proteste könnten möglich sein, ein Bürgerkrieg könnte möglich sein, aber auch ein fortdauernder Verbleib im Status Quo.
Christina Foerch: Ich wünschte, ich könnte hoffnungsvoller sein, aber mit den verschiedenen Krisen, die den Libanon erschüttern, haben die meisten Libanesen die Hoffnung verloren und befinden sich derzeit in einem Zustand der Lähmung und Depression. Die Ermordung von Lokman Slim, der Intellektueller war, Verleger, eine Schlüsselfigur der libanesischen Zivilgesellschaft und ein Freund, zeigt, dass die Räume für Meinungsfreiheit, Opposition und zivilen Ungehorsam rapide abnehmen.
Ziad Saab: Und es besteht die Gefahr, dass Verbrechen wie Lokmans Ermordung ungestraft bleiben.
Christina Foerch: Viele Organisationen der Zivilgesellschaft, darunter Fighters for Peace, haben sich für transitionelle Justiz eingesetzt. Ohne derartige Prozesse wird das Land nicht vorankommen.
Wie ist die Situation der Flüchtlinge aus Syrien im Libanon?
Christina Foerch: Die Situation der syrischen Flüchtlinge im Libanon ist weiterhin sehr schlimm. Die meisten leben in großer Armut und sind ausschließlich auf die Hilfe internationaler Organisationen angewiesen. Einige syrische Kinder und Jugendliche werden wenigstens unterrichtet. Die meisten syrischen Geflüchteten sind unregelmäßig und vor allem im informellen Sektor beschäftigt oder haben überhaupt keine Arbeit. Und mit Covid-19 hat sich die Bildungs- und Erwerbssituation der Geflüchteten fast unmöglich gemacht.
Wie findet eine Integration statt?
Ziad Saab: Ich erkenne derzeit keinen Willen der Behörden, die syrischen Flüchtlinge aktiv in die libanesische Gesellschaft zu integrieren, denn sie wollen das empfindliche konfessionelle Gleichgewicht im Libanon bewahren.