Porträts von Peacebuildern aus Projekten des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa)
Mit Journalist:innen hat das Institut für Auslandsbeziehungen Portraits von einigen Peacebuildern aus geförderten Projekten erstellt. Hier wird Hagit Ofran vorgestellt:
Die Kerzenhalterin
Hagit Ofran dokumentiert den Siedlungsbau in den palästinensischen Gebieten und sensibilisiert die israelische Öffentlichkeit dafür, um weiterhin die Möglichkeit der Zweistaatenlösung aufrecht zu erhalten. Inspiriert wird sie dabei auch vom Erbe ihres Großvaters.
Wann auch immer Ende der Achtziger Jahre die Friedensorganisation Peace Now Zehntausende von Israelis für den Frieden auf die Straßen brachte: die Teenagerin Hagit Ofran stand am Rand und sah fasziniert zu. Noch fühlte sie sich zu jung, um mitzumischen. Doch einige Jahre später, es war 1995 und Ofran hatte gerade den Militärdienst abgeschlossen, verfolgte sie im Fernsehen die Parlamentsdebatte um die Unterzeichnung des Friedensabkommens Oslo II. Zwei Parlamentsabgeordnete der Arbeitspartei, der damals tragenden Säule des Friedenslagers, stimmten gegen die Unterzeichnung. Die zu der Zeit 21-Jährige konnte es nicht fassen. Kurzerhand wurde sie Mitglied der Arbeitspartei, um bei deren Vorwahlen mitbestimmen zu können, und kurz darauf aktiv bei Peace Now.
Mittlerweile ist Hagit Ofran leitende Direktorin des Siedlungs-Watch-Programms von Peace Now – und weiß vermutlich mehr über die israelischen Siedlungen in den palästinensischen Gebieten als irgendein anderer Israeli.
Die 45-Jährige sitzt mit grauen, schulterlangen Locken und Brille in ihrem Wohnzimmer im Jerusalemer Stadtteil Rechavia und gibt Einblick in Seiten ihrer Persönlichkeit, die auf den ersten Blick widersprüchlich erscheinen mögen: Ofran bezeichnet sich als Zionistin, aber prangert den Siedlungsbau aufs Schärfste an. Sie spricht von sich selber als Workaholic, aber strahlt eine Ruhe aus, die ansteckend ist. Sie steht ganz klar auf einer Seite im wohl hitzigsten und zentralsten Konflikt des derzeitigen Israel, aber spricht immer ruhig und wohlüberlegt.
Noch so ein scheinbarer Widerspruch ist die Tatsache, dass die Friedensaktivistin noch immer in Jerusalem lebt, dort, wo sie geboren und aufgewachsen ist, wo allerdings auch der Konflikt zwischen den Israelis und den Palästinensern so brodelt wie nirgendwo anders. Doch gerade deshalb ist es Ofran wichtig, dort zu sein. Sie möchte der Geschichte dieses Ortes und den Geschehnissen nahe sein. „Abgesehen davon liebe ich die Diversität der Stadt“, sagt die selbsterklärte Lokalpatriotin: „und die Möglichkeiten, die die Stadt auch in religiöser Hinsicht bereithält.“ Für Ofran, die aus einem religiös-zionistischen Elternhaus kommt, in ihren Zwanzigern der Religion den Rücken gekehrt hat und schließlich einige traditionell-religiöse Elemente wieder in ihren Alltag integriert hat, spielt das eine große Rolle.
Der begehrteste Job des Friedenslagers
Man sollte meinen, dass diejenigen, die an vorderster Front gegen den Siedlungsbau aktiv sind, ab und zu das Bedürfnis nach Zerstreuung haben, nach Kinogängen, Yoga oder Kneipenabenden. Nicht so Ofran. Wenn sie Bücher liest oder Filme sieht, erzählt sie und lacht, dann haben die für gewöhnlich mit dem Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern zu tun. „Ein Freund von mir sagte einmal, dass ich den wohl begehrtesten Job des Friedenslagers habe“, erzählt sie: „Er hatte Recht.“ Ofran fühlt sich privilegiert, dass sie ihren Brotverdienst mit dem verbinden kann, woran sie tief im Innern glaubt: Dass die Besatzung und der Siedlungsbau aufhören müssen. Außerdem kommt ihr der Abwechslungsreichtum der Arbeit entgegen: Die studierte Judaistin schreibt Artikel über den Siedlungsbau, führt und verfolgt Gerichtsprozesse zu Außenposten, also Siedlungen, die auch von Israel als illegal betrachtet werden, oft aber im Nachhinein legalisiert werden. Sie führt Interviews, wertet Karten aus und fährt regelmäßig durch das Westjordanland, um den Siedlungsbau zu dokumentieren.
Für einige Israelis ist sie eine Ikone. 2014 wurde sie von der israelischen Tageszeitung Haaretz zu einer der 66 einflussreichsten israelischen Frauen ernannt. Andere sehen ihre Aktivitäten als Verrat am Aufbau des Landes und betrachten sie als diejenige, die ihre Siedlungen zerstört hat. Vor einigen Jahren, als Peace Now gerade vor Gericht gegen einen Außenposten klagte, fand sie an drei verschiedenen Tagen in ihr Treppenhaus gesprühte Morddrohungen. Bedroht fühlt sie sich dennoch nicht, und es liegt ihr fern, sich zu verstecken. Vorsichtig ist sie allerdings in einigen Siedlungen, in denen sie mehrfach von Siedlern mit Steinen beworfen wurde.
Wie bleibt sie so ruhig, bei alldem, was passiert, inmitten des Konfliktes, bei langen Arbeitstagen und als Mutter dreier Kinder, die sie gemeinsam mit ihrem Partner großzieht? „Vielleicht sind es die Gene“, sagt sie, lächelt und zuckt mit den Achseln: „Ich bin einfach nicht gerne wütend.“
Dass die Besatzung in ihren Augen das zentrale Thema für Israel heute ist und das Nachdenken darüber ihr so in Fleisch und Blut übergegangen ist, mag auch an ihrem Großvater Jeschajahu Leibowitz liegen, einem religiösen Juden und einflussreichem israelischen Philosoph, der für seine scharfe Kritik an der Besatzungspolitik bekannt war: „Seine Vorstellungen über die Besatzung waren sehr eindeutig“, sagt Ofran und ergänzt: „Und wahr. Er sagte, die Besatzung ist unmoralisch und furchtbar und muss aufhören.“ An jedem Schabbat besuchte die kleine Ofran mit ihrer neunköpfigen Familie die Großeltern, manchmal kamen auch ihre Cousins und Cousinen: „Das Haus war ziemlich voll. Und wir alle liebten es, mit ihm zu sprechen.“
Sie hat wohl beides von ihm geerbt: seinen Zionismus und seine Kritik an der Besatzung. „Der Begriff Zionismus wurde gekapert, aber ich würde mich nach meiner eigenen Definition Zionistin nennen“, erklärt sie: „Ich unterstütze den Staat Israel als Heimstätte der Juden. Aber in meinem Zionismus haben die Palästinenser volle Rechte. Und sollten eines Tages die Bewohner des Staates einen Palästinenser zum Ministerpräsidenten wählen, dann sei es so. Es ist keine Bedrohung.“
„Wir sind mit Fragen aufgewachsen, nicht mit Antworten“
Ofrans Großvater hat seine Enkelin nicht nur in politischer Hinsicht beeinflusst, sondern auch in der Art ihres Denkens.
„Wir sind mit Fragen aufgewachsen, nicht mit Antworten“, sagte einmal einer ihrer Brüder. Der Drang, die Dinge zu hinterfragen, ist ihr geblieben. Einfache Wahrheiten wird man von ihr selten hören. Ihr Unwille, in Klischees zu sprechen und Gut-Böse-Schemata aufzumachen, wird auch deutlich in der Art und Weise, wie sie über Siedler spricht. Es würde nahe liegen, mit Wut auf diejenigen zu reagieren, die in ihren Augen gegen den Frieden arbeiten, und sie mitunter sogar physisch angreifen. „Die meisten der Siedlerinnen und Siedler sind anständige Leute“, sagt sie stattdessen: „Sie stehen hinter Werten, die ich furchtbar finde, sie erlauben es sich, auf dem Land anderer Menschen zu leben, zu besatzen und andere Menschen ihrer Rechte zu berauben. Aber sie sehen das nicht so. Sie sehen das anders.“
Es sind im Übrigen nicht die Siedler oder die Unterstützer der Besatzung, die Ofran am meisten belasten. Es sind vielmehr diejenigen, die eigentlich an das Gleiche glauben wie Ofran, aber es für aussichtslos halten, dafür noch zu kämpfen. Manchmal hat Ofran das Gefühl, dass der Kampf nicht mehr derjenige ist, Menschen von der Zweistaatenlösung zu überzeugen, sondern der, gegen die Verzweiflung anzukämpfen. Dann ist sogar Ofran manchmal ihres Jobs müde.
Doch bisher hat sie immer Wege gefunden, ihre Batterien aufzuladen. „Es ist das Richtige“, sagt sie sich in solchen Momenten, „egal ob es zielführend ist oder nicht.“ Aber meistens glaubt Ofran daran, dass die Mehrheit der Israelis die Siedlungen nicht unterstützen, sondern ihr Leben leben und Frieden wollen. Deswegen, sagt sie und benutzt eine Metapher, die man aus dem palästinensischen wie israelischen Friedenslager des Öfteren hört, braucht es eine Kerze, die nicht verlischt. Die das Feuer dann wieder entzünden kann, wenn die Zeit dafür reif ist. Wenn es die Chance auf Frieden gibt.
Über das Projekt
Im Settlement-Watch-Programm überwacht Peace Now die Entwicklungen des Siedlungsbaus in den palästinensischen Gebieten und informiert in Videos, Touren und Veranstaltungen die israelische und internationale Öffentlichkeit darüber. Damit regt die NGO Debatten an, um auf die Notwendigkeit von zwei Hauptstädten für Israelis und Palästinenser in Jerusalem zu drängen und das Fenster für die Zwei-Staaten-Lösung offen zu lassen.
Über die Autorin
Judith Poppe, Jahrgang 1979, lebt in Tel Aviv und ist seit 2019 Korrespondentin der Tageszeitung taz für Israel und die palästinensischen Gebiete. Aus dem Nahen Osten berichtet sie auch für verschiedene andere deutschsprachige Medien. Sie wurde an der Universität Göttingen mit einer Arbeit über deutschsprachige Lyrik Israels promoviert.
Über das Förderprogramm zivik
Das Förderprogramm zivik unterstützt weltweit zivile Akteure dabei, Krisen vorzubeugen, Konflikte zu überwinden und friedliche gesellschaftliche und politische Systeme zu schaffen sowie zu stabilisieren. Mit ihrem Engagement ergänzen die Nichtregierungsorganisationen das Handeln staatlicher Akteure um wichtige Perspektiven und Akzente. Gefördert werden Projekte der zivilen Konfliktbearbeitung und Friedensförderung von NGOs, die international, national oder lokal tätig sind.