31. August 2021

Porträts von Peacebuildern aus zivik-Projekten: Der Zuhörer

Nicolaus Mesterharm engagiert sich in Kambodscha gegen das Vergessen der Schreckensherrschaft der Roten Khmer. Sein eigene Familiengeschichte treibt ihn an.

Foto: Thomas Christofoletti

Als Nicolaus Mesterharm als 32-jähriger Tourist zum ersten Mal in Kambodschas Hauptstadt ankam, lag Befreiung in der Luft. Es war das Jahr 2000, zwei Jahre zuvor hatten sich die letzten Roten Khmer ergeben und ihr brutaler Anführer Pol Pot war gestorben. „Es war, als ob die Menschen das erste Mal richtig durchatmen“, erinnert sich der 53-jährige Westberliner, „jeder hat dich angelächelt, die Leute wollten mit dir reden.“

Mesterharm war von der Atmosphäre in Phnom Penh wie elektrisiert. Mit einem Team kehrte er wenige Wochen später dorthin zurück, knüpfte Kontakte, drehte Fernsehbeiträge, auch solche, auf die er heute nicht mehr stolz ist, produzierte eine arte-Doku über die bedrückende HIV-Epidemie im Land, lernte die Kultur und die Menschen schätzen und ließ sich 2005 in der Stadt nieder.

Der Journalist und Filmemacher, den alle Nico nennen, leitet heute das Deutsch-Kambodschanische Kulturzentrum „Meta House“ in Phnom Penh. Man ist mit ihm schnell beim Du angelangt. Mesterharm hat sich der Aufarbeitung der Rote-Khmer-Zeit zugewandt; das Reden und vor allem das Zuhören sind nach wie vor wichtige Teile seiner Arbeit. Mit dem Projekt „Virtual Memorial“ bittet er seit 2019 Zeitzeugen vor die Kamera, um für die Nachwelt Zeugnis abzulegen. In den Jahren zuvor war er mit einem Theaterstück an den Schulen des Landes unterwegs. „Am Anfang war ich erschrocken“, sagt er, „wie wenig sich viele junge Leute für die Zeit der Roten Khmer interessierten.“

Die Opfer erzählen der Jugend ihre eigene Geschichte“

Die Roten Khmer, die jahrzehntelang im Land wirkten und von 1975 bis 1979 nach der Eroberung von Phnom Penh die Regierung stellten, haben Kambodscha traumatisiert hinterlassen. Bis zu 2,2 Millionen Todesopfer forderte ihre Herrschaft, die Bevölkerung litt Hunger, Menschen wurden grausam gefoltert, massenweise vertrieben, Familien wurden getrennt, Fremde miteinander verheiratet. Die Liste ihrer Verbrechen ist lang, jede Zusammenfassung ihrer Taten greift zu kurz. Auch deshalb macht sich Mesterharm mit „Virtual Memorial“ auf den Weg, um möglichst viele Einzelstimmen der Opfer aufzuzeichnen. Viele der Betroffenen leben heute noch und haben ein Bedürfnis, über das Erlebte zu sprechen.

„Die Opfer erzählen der Jugend ihre eigene Geschichte“, sagt Mesterharm und betont, dass die Gesprächspartner nicht überredet oder bezahlt werden. „Je mehr sie reden, desto weniger Konsequenzen ihres Traumas erleben sie.“ Manche Gespräche führt Mesterharm selbst, aber wenn es aus der Stadt hinaus aufs Land geht, übernimmt ein einheimisches Team die Interviews. „Es wird immer etwas anderes sein, wenn ich als Weißer ankomme und mit den Menschen sprechen will. Man bleibt der Fremde, der Deutsche.“

„Was hätte ich gemacht, wenn ich dabei gewesen wäre?“

Mesterharm hat selbst eine bewegte Familiengeschichte. Seine Großeltern mütterlicherseits wurden als Juden von den Nazis erschlagen – der Großvater groteskerweise als glühender Anhänger Hitlers. Der Ehemann der Frau, die später seine Mutter adoptierte, hatte seine Großeltern verraten. In der Geschichte seiner Familie, vermutet Mesterharm, liegt ein Antrieb seines Forschergeists, ein Grund, warum er über das Grausame redet, das Menschen Menschen antun. Er will verstehen, wie es dazu kommen kann. „Vor allem“, sagt er, „stellt sich mir die Frage: Was hätte ich gemacht, wenn ich dabei gewesen wäre?“

Ein Teil seiner Arbeit ist das Sichten und Schneiden der Zeitzeugenberichte. Mesterharm kennt Kambodschas jüngere Geschichte mittlerweile bis ins Detail. Wenn ein neues Interview gemacht ist, überprüft er, ob das Erzählte schlüssig ist. „Das ist nicht immer einfach. Die Menschen, die erzählen, sind keine besonders gebildeten Leute. Sie sind vom Land, sie sind teilweise schon alt, sie erinnern nicht immer alles richtig.“ Was nicht passt, keinen Sinn ergibt, wird herausgeschnitten. „Ich schaue mir jedes Interview fünf Mal oder mehr an – jedenfalls viel zu oft, um es wieder zu vergessen. Es bleibt im Kopf und arbeitet dort.“

2005 bezogen Mesterharm und seine Kambodschanische Frau ein Haus mit einem großen, sehr dunklen Raum im Erdgeschoss und einer schönen Dachterrasse. „Wir kamen auf die Idee, eine Art Berliner Salon daraus zu machen, unten Kunstausstellungen, oben Filme zeigen.“ Was damals unter Freunden begann, ist heute immer noch Programm. Das Meta House ist inzwischen umgezogen und Partner des Goethe Instituts geworden. Die Dynamik und Lebendigkeit des Kulturzentrums, der Austausch mit den jungen Stadtmenschen ist Mesterharm willkommener Ausgleich zur Erinnerungsarbeit. „Es ist heute noch tief beeindruckend auf mich“, sagt er, „wie die Kambodschaner ihren Frust, ihre Armut, ihre Enttäuschungen abends beim gemeinsamen Essen und Trinken ablegen und selbst traumatisierte Opfer aus vollem Herzen lachen und fröhlich sein können.“

Mesterharm hat 2018 das Bundesverdienstkreuz für seine Arbeit bekommen. Es hat ihm noch einmal Anstoß gegeben, über seine Rolle als Deutscher in Kambodscha nachzudenken. „Ich bin verhaftet in dem, wie ich geprägt bin“, sagt er. „Wir sind grundverschieden, aber auch eins – und es ist mein Anliegen, dass die Kambodschaner verstehen, dass wir Deutschen aus der Hitlerzeit gelernt haben.“ Schließlich sei das wichtigste Ziel der Erinnerungsarbeit, dass sich Geschichte nicht wiederholt. Auch seine persönliche Familiengeschichte sieht Mesterharm heute differenzierter. „Mit meinem Vater hatte ich politische Differenzen. Heute würde ich ihn gern in den Arm nehmen, und ihm dafür danken, dass er seine Kriegstraumata nicht an mich herangelassen hat.“

Martin Petersen

Das Förderprogramm zivik fördert das Projekt „Virtual Memorial“. Das Projekt hat zum Ziel, eine virtuelle Erinnerungsplattform zu entwickeln, ähnlich der der Shoa Foundation. Damit soll erreicht werden, dass zu einer Aufarbeitung der Rote-Khmer-Geschichte beigetragen wird und besonders Jugendliche angesprochen werden. Daneben erhalten die Zeitzeugen eine Plattform, ihre Geschichten zu erzählen.

Martin Petersen, Jahrgang 1978, leitet seit 2017 in Doppelspitze die Redaktion des Magazins der Robert Bosch Stiftung. Zuvor, von 2010 bis 2017, war er Chefredakteur und Mitgründer des Hamburger Printmagazins STADTLICHH. Als freier Journalist ist er für verschiedene deutsche Medien tätig.

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