Wie weiter im Sahel?
Dialogreihe zu integrierter Sicherheit: Internationale Zusammenarbeit im Fokus
Was bedeutet das Leitbild der integrierten Sicherheit für das deutsche Engagement in der internationalen Zusammenarbeit? Wie bewerten lokale und regionale Akteur*innen die Prioritäten und Anforderungen für Frieden und menschliche Sicherheit aus ihrer Perspektive?
Diese Fragen standen im Fokus einer gemeinsamen Diskussion mit Vertreter*innen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft aus Deutschland und der Sahel-Region. Der Workshop stand unter dem Eindruck des Militärputsches im Niger und beschäftigte sich mit den Konsequenzen für die internationale Zusammenarbeit in der Region. Nach der Verabschiedung der ersten nationalen Sicherheitsstrategie für Deutschland diskutierten die Teilnehmer*innen am Beispiel des Sahel-Raums über Anforderungen an die politische Praxis.
Der Workshop war Teil einer gemeinsamen Veranstaltungsreihe in Kooperation von FriEnt, der Berghof Foundation und der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) – er stellte lokale und regionale Perspektiven in den Mittelpunkt. Ausgangspunkt für die Diskussion waren die Ergebnisse aus dem ersten Teil der Reihe vom 13. Juni 2023, ergänzt durch eine FriEnt-Veranstaltung zur Bedeutung der nationalen Sicherheitsstrategie für die künftige Zusammenarbeit in und mit Partnerländern. Wie schon für den Auftakt-Workshop kamen dafür Vertreter*innen aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft zusammen – aus den Bereichen Friedens-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik sowie mit regionaler Expertise.
Multiple Krisen als Herausforderung für eine Politik der integrierten Sicherheit
Der Sahel-Raum ist eine der ärmsten und konfliktreichsten Regionen der Welt und massiv von den Folgen der Klimakrise betroffen. Die Region erlebt eine der am schnellsten wachsenden Fluchtbewegungen weltweit und gilt als Epizentrum für terroristische Gruppierungen. Was bedeutet diese Dynamik für eine Politik unter dem Leitbild der integrierten Sicherheit? Die Sahel-Region zeigt besonders eindringlich, dass dafür verschiedene Politikfelder und Handlungsebenen ineinandergreifen müssen. Zudem greifen Ansätze zu kurz, die nur auf die militärische Dimension von Sicherheit zielen. Der neue Staatsstreich ist ein Rückschlag für die Bemühungen um Stabilität und demokratisches Regieren in der Region; mit schwer kalkulierbaren Folgen für die Bevölkerung.
Stimmen und Analysen aus dem Sahel-Raum standen daher am Beginn der Diskussion – mit Beiträgen aus Mali, Niger und West-Afrika (nach Chatham House-Regeln). Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen in Mali und im Niger ergeben sich demnach vier Kernbotschaften für eine Politik der integrierten Sicherheit in den Sahel-Ländern: Eine Abkehr von rein militärischen Optionen, die Bearbeitung struktureller Ursachen für Gewalt und Radikalisierung, die Resilienz der Bevölkerung zu bestärken sowie eine gleichberechtigte und partnerschaftliche Zusammenarbeit statt Top-Down Ansätze entlang europäischer Vorstellungen. Ein wichtiges Element dafür sei eine direktere Einbindung der Zivilgesellschaft auch für sicherheitspolitische Entscheidungen. Weil in vielen Gebieten extremistische Gruppen teilweise staatliche Funktionen übernommen haben und Dienstleistungen für die Bevölkerung anbieten, läge darin eine besondere Herausforderung.
Mehr Aufmerksamkeit für staatliche Kernaufgaben jenseits des Gewaltmonopols für soziale und rechtsstaatliche Schutzfunktionen sowie für die Rolle von Eliten empfahl auch eine Bestandsaufnahme zum bisherigen Engagement in der Region. Für die deutschen Beiträge seien Grundprinzipien aus den friedenspolitischen Leitlinien der Bundesregierung nicht ausreichend umgesetzt worden. Das gelte besonders für Ansätze und Instrumente für Prävention und Diplomatie, für gute Regierungsführung und zivile Konfliktbearbeitung. Die Zusammenarbeit der beteiligten Ressorts habe sich zwar verbessert, notwendig sei aber eine stärkere Rolle für die Botschaften sowie eine engere Einbindung der lokalen Zivilgesellschaft. Erst so könne man Entwicklungen vor Ort aktiver für angepasste Analysen und Strategien aufgreifen.
Im Austausch mit den Teilnehmer*innen wurde deutlich, dass die Ziele und Interessen für das internationale Engagement in der Region für die lokale Bevölkerung besser und transparenter vermittelt und Zielkonflikte ehrlich benannt werden müssen. Dazu gehöre auch, Wechselwirkungen und Widersprüche in den Aktivitäten unterschiedlicher Ressorts und Handlungsfelder konkreter in den Blick zu nehmen, um negative Effekte möglichst zu vermeiden. Ähnliches gelte für die Zusammenarbeit mit der lokalen Zivilgesellschaft, um passende Partnerorganisationen mit Legitimität und Ownership zu identifizieren. Gleichzeitig könnten internationale Akteure auch unter schwierigen Bedingungen nicht komplett unabhängig von staatlichen Partnern agieren. Deshalb blieben Abwägungs- und Aushandlungsprozesse unvermeidlich.
Regionale und lokale Perspektiven
Der Sahel-Raum zeigt besonders eindringlich, dass für eine Politik der integrierten Sicherheit lokale und regionale Bedarfe im Fokus stehen müssen. Welche Rolle zivilgesellschaftliche Akteur*innen dabei entfalten können und welche Anforderungen für das internationale Engagement damit verbunden sind, vermittelten weitere Impulsbeiträge aus der Region. So sei der jüngste Putsch im Niger kein singuläres Phänomen, sondern stehe in einer Reihe mit vorherigen Staatsstreichen im Land – und im Kontext der regionalen Dynamik mit weiteren Militärregierungen in Mali und Burkina Faso. Eine Ursache dafür sei die verheerende Lebenssituation der Bevölkerung, die unter mehrfachen Krisen leidet. Neben der Bedrohung durch terroristische und extremistische Gewaltakteure, die auch grenzübergreifend agieren, gehören dazu die Folgen der Klimakrise wie Dürren und Überschwemmungen. Landwirtschaft und Lebensmittelanbau sind daher kaum noch möglich. Die große Mehrheit der Menschen lebt in Armut und es fehlen Perspektiven für Bildung und Arbeit. Hinzu kommen demographischer Druck und humanitäre Versorgungskrisen durch Flucht und Migrationsbewegungen, sowie besonders in den Grenzregionen auch organisierte Kriminalität und Menschenhandel. Wachsende Ungleichheit, Unzufriedenheit mit der Regierung und Ablehnung gegen die militärische Präsenz europäischer Staaten – besonders Frankreichs – in der Region bilden demnach den Nährboden für Umstürze und für die Unterstützung der Putschisten durch Teile der Bevölkerung.
Die enge regionale Verbindung der Sahel-Staaten und eine aktive lokale Zivilgesellschaft gelten aber auch als wichtige Grundlage für Kooperation und zivile Konfliktbearbeitung. Ein gutes Beispiel dafür ist das regionale Netzwerk für Frühwarnung und Prävention, das auf der Gemeindeebene ansetzt und auch an die Westafrikanische Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) berichtet. Das Netzwerk ist dezentral für einzelne Länder organisiert und kann so nationale Entwicklungen flexibel aufgreifen. In der Diskussion wurde aber auch deutlich, dass gute Frühwarnmechanismen wenig helfen, wenn darauf kein politisches Handeln folgt. Ein wichtiger Mehrwert aus der engeren Einbindung lokaler Akteur*innen sei jedoch die stärkere Aufmerksamkeit für die Anliegen von Frauen und Jugendlichen. Besonders kleine, selbstorganisierte Gruppen hätten häufig keinen Zugang zu internationaler Unterstützung, weil sie Vorgaben nicht erfüllen können. Über die Zusammenarbeit mit regionalen Netzwerken lasse sich das teilweise auffangen und für inklusivere Ansätze nutzen. Eine wichtige Funktion erfüllen demnach auch religiöse Autoritäten, um so Menschen in den Gemeinden und politische Vertreter*innen auf kommunaler Ebene besser zu erreichen.
Empfehlungen für eine Politik der integrierten Sicherheit
Wie sich Prioritäten und Bedarfe in den Sahel-Ländern in der internationalen Zusammenarbeit abbilden und welche Anforderungen an das Engagement damit verbunden sind, stand im Mittelpunkt für den zweiten Teil des Workshops. In Arbeitsgruppen entwickelten die Teilnehmer*innen Empfehlungen für die deutsche Politik und das Zielbild der integrierten Sicherheit. Mit Rekurs auf die Beiträge aus der Region und die Zusammenarbeit auf nationaler und multilateraler Ebene entstanden daraus weiterführende Fragen und Impulse für den politischen Diskurs: (i) für eine stärkere Ausrichtung an den Voraussetzungen für menschliche Sicherheit, besonders auf lokaler Ebene und mit aktiver Beteiligung der Zivilgesellschaft; (ii) für die Zusammenarbeit mit weiteren Akteuren wie anderen Geberländern sowie mit internationalen und multilateralen Organisationen wie den Vereinten Nationen (VN), der Europäischen Union (EU) und ECOWAS; (iii) für ein abgestimmtes Ressorthandeln und die Auswahl geeigneter Ansätze und Instrumente für das deutsche Engagement. In der Zusammenschau ergibt sich daraus ein Plädoyer für mehr Transparenz der Interessen und Ziele. Gleichzeitig solle die Politik informiert und reflektiert handeln im Bewusstsein der Möglichkeiten und Grenzen für das eigene Engagement:
- Stärkere strategische Ausrichtung und Transparenz der Ziele und Interessen für das Engagement: Lokale und nationale Partner in der Region bleiben häufig im Unklaren über die Motivation internationaler Akteure; mit Blick sowohl auf inhaltliche Schwerpunkte und Ziele als auch auf die Auswahl von Kooperationspartnern. Auch mögliche Zielkonflikte zwischen eigenen Prioritäten und denen der Partner und/oder weiterer Akteure sollten klar benannt und erläutert werden. Dazu gehöre auch das Bewusstsein über die eigene Rolle und die Möglichkeiten und Grenzen des deutschen Engagements. Entscheidend dafür sei die Frage, wo der deutsche Beitrag im Einklang mit den eigenen Werten und Interessen einen Mehrwert entfalten kann. Das gelte auch für die Auswahl geeigneter Ansätze und Instrumente aus der Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik.
- Verbesserte Analyse, informiertes Entscheiden und kohärentes Politikhandeln: Multiple Krisen und eine komplexe, veränderliche Konfliktdynamik in der Sahel-Region verlangen aktuelle Analysen und einen guten Überblick. Bestehende Regional- und Länderstrategien würden von den Entwicklungen schnell überholt. Mögliche Ansätze und Empfehlungen für das deutsche Engagement seien die Entwicklung ressortgemeinsamer Länderstrategien und konkretere Anreize für die Zusammenarbeit – für einen „Kulturwandel“, der das Leitbild der integrierten Sicherheit auch integriert bearbeitet. Ein wichtiges Element dafür sei auch eine stärkere Rolle der Botschaften für aktuelle Analysen und die Vernetzung auf der Länderebene.
- Strukturelle Konfliktursachen bearbeiten und Zusammenarbeit mit lokaler Zivilgesellschaft: Ein Leitmotiv in allen Arbeitsgruppen war das Plädoyer für eine enge Zusammenarbeit mit lokalen Akteur*innen, besonders aus der Zivilgesellschaft. Nur so könnten nationale Kapazitäten aktiv gefördert und strukturelle Konfliktursachen gezielt bearbeitet werden – besonders mit Blick auf Armut und Ungleichheit. Eine ungelöste Frage bleibe aber die Auswahl der Partner. Auch Organisationen der Zivilgesellschaft haben heterogene Interessen, sind lokal und national unterschiedlich stark legitimiert. Zudem variieren sie in ihrer Größe und der Organisation. Hinzu kommen Sicherheitsaspekte, weil zivilgesellschaftliche Akteur*innen durch die Aktivitäten in Krisenregionen und/oder durch die Zusammenarbeit mit internationalen Partnern gefährdet sein können. Daraus entsteht eine besondere Verantwortung für Kooperationen und Partnerschaften. Wichtige Voraussetzungen für Glaubwürdigkeit und Vertrauen in der Zusammenarbeit seien auch hier sorgfältige Kontext- und Konfliktanalysen sowie Transparenz der eigenen Schwerpunkte und Ziele für das Engagement.
Der nächste Workshop in der gemeinsamen Veranstaltungsreihe findet am 24. Oktober 2023 an der Bundesakademie für Sicherheitspolitik (BAKS) statt – dann mit einem Fokus auf die nationale Sicherheitsstrategie und die Gestaltung der feministischen Außen- und Entwicklungspolitik.