Keine Gewöhnung an Gewalt. Den Krieg beenden.
Anlässlich der bevorstehenden Beratungen zur Verlängerung des Afghanistan-Mandats fordert der Präsident der deutschen Sektion von pax christi Heinz Josef Algermissen, Bischof von Fulda, die Bundesregierung auf, den sofortigen Beginn des Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan einzuleiten und das deutsche Engagement in Afghanistan konsequent zivil auszurichten.
Den gesamten Wortlaut seiner Erklärung finden Sie im Folgenden:
"Eine Gewöhnung an das Mittel der Gewaltanwendung kann es unter dem
Vorzeichen des gerechten Friedens nicht geben.
"Gerechter Friede, Die deutschen Bischöfe, 27. September 2000
Keine Gewöhnung an Gewalt. Den Krieg beenden.
Erklärung des Präsidenten von pax christi, Bischof Heinz Josef Algermissen, Fulda, zur geplanten Verlängerung des Afghanistan-Mandats
Die Bundesregierung hat sich bereits für die Verlängerung des Mandats der Bundeswehr für den Afghanistan-Einsatz entschieden, über die der Bundestag in Kürze beschließen wird. Mit dem "Fortschrittsbericht Afghanistan" legte die Bundesregierung den Abgeordneten im Dezember 2010 dazu erstmals eine ausführliche Darstellung der Lage in Afghanistan vor. Eine solche lange geforderte Gesamtdarstellung der internationalen Intervention in Afghanistan hatte es in Deutschland bisher nicht gegeben. Die Ausführlichkeit des Berichtes verdient Anerkennung, der Verzicht auf die Bewertung der gesammelten Fakten nicht.
Verbunden mit Hinweisen auf die militärische Eigendynamik und die damit verbundene hohe Anzahl von Menschenleben, die dieser Krieg schon gekostet hat, habe ich im vergangenen Jahr das Scheitern des militärischen Einsatzes konstatiert, dessen Beendigung und den Einsatz seiner finanziellen Mittel für den zivilen Aufbau gefordert. Angesichts der erschreckenden Fakten, die im Bericht der Bundesregierung deutlich zu Tage treten, und der nach wie vor fehlenden konkreten Abzugsperspektive der Bundesregierung erinnere ich daran und bekräftige meinen Appell.
Offen stellt die Bundesregierung in ihrem Bericht fest, dass "die stetig wachsende Militärpräsenz bisher nicht zu einer signifikanten und nachhaltigen Verbesserung der Sicherheitslage geführt", sondern diese sich "ab 2006 erheblich verschlechtert" hat und der Konflikt in Afghanistan aus der Sicht aller beteiligten Akteure militärisch nicht zu lösen ist. Die Zustimmung der afghanischen Bevölkerung zur Präsenz der internationalen Truppen ist auch im für Deutschland bedeutsamen Norden in hohe Ablehnung umgeschlagen.
Der Krieg, an dem Deutschland seit neun Jahren beteiligt ist, hat in der afghanischen Bevölkerung, unter den Aufbauhelferinnen und -helfern sowie unter den Kämpfenden viele Opfer gefordert. Angesichts der hohen Zahl von Kriegstoten bedeutet die geplante Fortsetzung der Kämpfe nichts anderes als sehenden Auges für die Jahre 2011 – 2014 weitere Todesopfer einzukalkulieren. Den vorsichtigen Opferangaben der UN-Hilfsmission Afghanistan zu Folge wären das jährlich 2.500 Menschen. Andere Quellen sprechen für das Jahr 2010 von nahezu 9.000 Getöteten und bald 16.000 Verletzen. Solchen Schätzungen zufolge wird die Gesamtzahl der seit 2001 getöteten Zivilisten mit knapp 20.000 und die der Verwundeten mit etwa 49.000 Verletzten angegeben.
Bei diesen offensichtlichen Auswirkungen und entsprechend zu erwartenden Folgen ist die Fortsetzung dieses Krieges nach den Kriterien, die wir Bischöfe im Jahr 2000 in unserer Denkschrift "Gerechter Friede" benannt haben, nicht zu rechtfertigen. Denn hier stehen völkerrechtliche Legalität und die ethische Legitimität der Intervention fundamental auf dem Spiel. Auch weil keine hinreichende Wahrscheinlichkeit besteht, dass die Fortsetzung der Gewalt ihr Ziel erreichen kann und die Lage nicht etwa noch verschlimmern wird.
Mit der Verlängerung des Mandats will die Bundesregierung trotzdem die Beteiligung Deutschlands an der Strategie der NATO weiterhin umsetzen. Dabei schließt sie sich auch den von der amerikanischen Regierung vorgegebenen Zeitplänen für den Abzug der internationalen Truppen an und betont, dass der Abzug erster Bundeswehrkontingente unter dem Vorbehalt der Sicherheit der verbleibenden Truppen stehe. Auf dieser Grundlage sollen die Abgeordneten der Verlängerung des Afghanistan-Mandates der Bundeswehr zustimmen.
Verschiedene Entscheidungsträger sprechen zurzeit eher formelhaft von Fehlern, die anfangs beim Afghanistaneinsatz gemacht worden seien. Der Rückblick auf 2010 zeigt aber, wie sehr sich die Situation auch unter der neuen, in London vereinbarten internationalen Strategie zugespitzt hat. Mit der in Lissabon beschlossenen NATO-Strategie hat sich die Befürchtung bewahrheitet, dass die NATO die Aufstandsbekämpfung in Afghanistan auch weiterhin zu einem Schwerpunkt macht, der zivile Maßnahmen nutzt, um einen militärischen Sieg zu erringen.
Afghanistan braucht nach diesem schrecklichen Krieg weiterhin internationale Unterstützung. Es kann zum jetzigen Zeitpunkt der Zerstörung und Armut im Land nicht um ein Ende der Intervention gehen, aber um ein Ende der Kämpfe. Zentral ist jetzt die Deeskalation der Gewalt. Wenn die afghanische Bevölkerung zu ihrer Sicherheit die Präsenz internationaler Soldatinnen und Soldaten wünscht, ist die Stationierung von UN-Blauhelmen für die nächsten drei Jahre bei sofortigem Abzug der NATO-Truppen zu prüfen.
Weitere internationale Unterstützung braucht insbesondere die aufkeimende afghanische Zivilgesellschaft, darunter mutige Frauenrechtsaktivistinnen. Die Situation der Frauen, die sich von den Alliierten eine Verbesserung ihrer Situation erhofft hatten, ist weiterhin katastrophal. Sie ist heute geprägt von einer Gesellschaft, die seit drei Jahrzehnten Krieg erlebt. Die militärische Gewalt wirkt in das Leben der Familien hinein und steigert die häusliche Gewalt. Auch der jetzige Krieg trägt dazu bei, dass Gewalt als einziger Weg der Konfliktlösung erscheint. Frauen setzen sich in kleinen Initiativen und Projekten für den Zugang zu den Rechten ein, die die Verfassung ihnen garantiert, die aber nicht angewendet werden. Um diese Frauen zu stärken, bedarf es vermehrten internationalen Engagements für das Rechtswesen. Die internationale Diplomatie ist hier gefordert, die zerstörerische Wirkung der massenhaften Traumatisierung der Frauen und Mädchen für die ganze Gesellschaft zu verdeutlichen. Innerafghanische Versöhnung kann nur auf der Basis von Schuldanerkenntnissen und tätiger Wiedergutmachung gelingen. Der gesellschaftliche Ausgleich mit den Taliban darf nicht auf Kosten der afghanischen Verfassung und ohne die Beteiligung von Frauen verhandelt werden.
Grundlage einer Entscheidung über das Mandat muss der Blick auf die Opfer dieses Krieges sein, verbunden mit der Frage, wie weitere Opfer zu vermeiden sind. Das kann in der Konsequenz aber nur bedeuten, diesen Krieg zu ächten. Es ist unverantwortlich, weiterhin Soldatinnen und Soldaten für einen Einsatz zu mandatieren, von dem alle Beteiligten, Militär und Politik, überzeugt sind, dass dieser Krieg dort nicht gewonnen werden kann. Es dürfen nicht noch mehr Menschen geopfert werden in der Annahme, militärisches Durchhalten könne das Land mit der Zeit soweit stabilisieren, dass die alliierten Truppen dann abgezogen werden können. Um im Interesse der afghanischen Bevölkerung Sicherheit zu gewährleisten, sind jetzt nicht Kämpfe, sondern das Ende aller Kampfhandlungen notwendig.
Wer den Einsatz in Afghanistan Krieg nennt, muss auch den Mut haben, diesen Krieg umgehend zu beenden. Afghanistan braucht Frieden.
pax christi fordert die Bundesregierung auf:
- den sofortigen Beginn des Abzugs der Bundeswehr einzuleiten,
- in der NATO auf ein sofortiges Ende der Kämpfe und den Beginn des Abzugs der internationalen Truppen hinzuwirken,
- wenn Afghanistan es fordert, im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen sowie materiell eine Blauhelm-Mission zu unterstützen,
- das deutsche Engagement in Afghanistan konsequent zivil auszurichten und dabei den Schwerpunkt auf die Umsetzung der afghanischen Verfassung, des Rechtswesens, die Förderung zivilgesellschaftlicher Initiativen sowie den Ausbau des Gesundheits- und des Bildungswesens zu legen,
- sich für die konsequente Umsetzung der UN-Resolution 1325, das heißt die Beteiligung von Frauen an allen Prozessen zur Herstellung von Stabilität in der Region mit den Nachbarstaaten, an allen Verhandlungen und innerafghanischen Versöhnungsprozessen einzusetzen und dies bei eigenen Projekten umzusetzen.
Berlin/Fulda, den 18. Januar 2011
Heinz Josef Algermissen, Bischof von Fulda